Ulli Olvedi

 

 

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ÜBER DEN RAND DER WELT

Taschenbuchausgabe

 

Kann man mit dem Ende des Lebens Freundschaft schließen? Nora ist über sechzig, als der Krebs sie endgültig einholt.  Eine Reise nach Kathmandu bringt sie in einem tibetischen Kloster in Verbindung mit der Tradition der Untrennbarkeit von Leben und Tod. Dadurch verliert ihr nahendes Ende nicht nur seinen Schrecken, sondern erweist sich als sinngebender Höhepunkt ihres bewegten Lebens. Ein eindringlicher spiritueller Roman, der Leben und Sterben auf eine berührende und tröstliche Weise miteinander verknüpft.

 

 

 

Besprechung zum Buch von Prof. Dr. Ingrid Riedel

 

Ein Buch zu finden, das einem wirklich beisteht und weiterhilft, wenn man selbst eine nahe Freundin, einen Freund bei einem unheilbaren Krankheitsprozess, ja beim Sterben begleitet, ist etwas Seltenes. Solch ein Buch jedoch ist Ulli Olvedi, der bekannten Autorin und Expertin des tibetischen Buddhismus, gelungen – in ihrem Roman „Über den Rand der Welt“.  Es ist kein Sachbuch der Lebenshilfe, es ist ein Roman, nach allen Regeln der Kunst mit bewegender Story und klugem Plot geschrieben. Die Hauptfigur Nora ist die von einem Krebsleiden Betroffene: „Aus. Ende. Das Todesurteil. Die Bäume taumeln vorbei. Rasen, rasen an den Rand der Welt. Dann hinunterstürzen – wohin? Aus dem Außen ins Innen, dort geht es weiter. Keine Lösung!“, so die ersten Sätze des Buches, die einen sofort in das Miterleben hineinziehen. Nora widerspricht dem Suizidimpuls. Sie ist verstört, so wie es jede der von solcher Diagnose Betroffenen zu Anfang sein wird, verstört über die nun nur noch begrenzte Lebenserwartung. Verstört aber auch bei dem nun einsetzenden Rückblick auf das Leben, bei dem, auf den ersten Blick, so manches nicht aufging. Nora ist zudem als Mensch geschildert, der sich alle Versäumnisse anlastet, der – wie viele – sein Leben vor allem von daher, was sie anderen schuldig geblieben ist, beurteilt: Ein Erbe auch eines einseitig verstandenen Christentums und einer davon bestimmten Erziehung. Ulli Olvedi versteht auch die psychologischen Zusammenhänge ins Spiel zu bringen. Hinter Noras Problematik sieht sie eine belastende Geschwisterkonstellation: Von Kindheit an hatte Nora hinter der glücklicher veranlagten und in der Familie geliebteren jüngeren Schwester zurückzustehen. Die Beziehung Noras zu ihrer Schwester ist seit langem abgebrochen.

So beginnt denn auch ihre Aufarbeitung des Ungelösten in ihrem Leben damit, dass sie ihrer Schwester Lisa zu schreiben beginnt und im Rückblick ihrer beider Geschick von Kindheit an aufrollt, um schließlich auch die gegenwärtigen Geschehnisse und die Phasen ihrer Annäherung an den Tod zu schildern und vor ihrer Schwester zu reflektieren: „Lisa, wenn Du diesen Brief bekommst, lebe ich nicht mehr.“

Dieser Teil des Buches, der lange Brief der todkranken Nora an ihre Schwester Lisa, der abschnittweise das ganze Buch durchzieht, eine Ich-Erzählung für sich innerhalb der Komposition des Buches, gibt dem Dargestellten eine besondere Authentizität, die den Leser zum Mitschwingen einlädt.

Nora, die allein lebt, nach Scheidung und Tod eines neuen Partners, ist in der Handlung des Buchs wachsend umgeben von einem Kreis recht unterschiedlicher Menschen, die sich immer mehr zu ihrer „Sterbefamilie“, wie sie selbst sie nennt, formen: Da ist Marie, die zuverlässige, warmherzige Nachbarin, eine Lebenspraktische, mütterliche Frau mit ihren beiden Töchtern, die, zusammen mit dem kleinen Kind, das einer der beiden gehört, immer zutraulicher zu „Tante Nora“ werden. Im Zentrum jedoch steht die gelungenste Gestalt des Buches, Wangmo,  eine Frau mit tibetisch-buddhistischem Hintergrund, Noras engste Freundin.  Wangmo ist es, die durch ihre gelebte Freundschaft zu Nora in dieser Grenzsituation die Handlung zu dem macht, was sie ist: die Geschichte davon, wie man einen todkranken Menschen begleiten kann, in einem neuen Umgang mit dem Sterben, einer Befreiung von der Befangenheit angesichts des Todes. Das Buch vermittelt hier eine berührende Erfahrung, wie es Wangmo gelingt, mit ihrer unaufdringlichen Zuverlässigkeit, mit ihrem liebevollen Humor der Freundin  eine neue Lebendigkeit zu vermitteln, zu der sie sich wachsend  von ihrer Ich-Zentriertheit lösen und dafür die Weite spiritueller Klarheit gewinnen kann. Durch eine Reise nach Kathmandu, dem Zentrum des tibetisch geprägten Buddhismus in Nepal, die Wangmo anregt und begleitet, lernt Nora den „Rinpoche“, der ihr Lehrer wird, kennen, und mit ihm Tara, eine imaginative Verkörperung des unendlichen Mitgefühls, das sie  gibt und weitergegeben haben will. Durch Imagination und Meditation der Tara gewinnt Nora Schutz und innere Begleitung durch die schwersten Phasen ihrer Krankheit.

Ulli Olvedi vermag durch die unaufdringliche Schilderung dieser inneren Erfahrung, in die auch die kritischen Rückfragen des westlichen Menschen Nora einbezogen sind, dem Leser eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche spirituelle Kraft und Geborgenheit aus der buddhistischen Tradition angesichts von Sterben und Tod gewonnen werden kann.

Wie schon in ihren früheren Romanen gelingt es Ulli Olvedi auch angesichts dieser Themen, den Lesern einen „Geschmack“ von solchen existenziellen Erfahrungen zu geben, indem sie diese – ohne zu belehren – erzählerisch und gestalterisch mitteilt. Wunderbar z.B. die Szene, in der Nora in ihrer Todesangst vor den Rinpoche tritt: „Rinpoche, ich werde sterben“, sagt Nora. „Ich auch“, erwidert der alte Tibeter freundlich und selbstverständlich, obgleich er keinerlei Anzeichen nahen Sterbens an sich trägt, ehe er, zugewandt, weiterfragt: „Krebs?“. Nora kommt nach der Erfahrung mit dem Rinpoche wie erneuert und innerlich belebt nach Europa zurück. Ihr Sterbeweg geht dennoch weiter.

Immer schützender schließt sich ihre „Sterbefamilie“, allen voran Marie, die Nachbarin, und Wangmo, um sie zusammen.

All diese Ereignisse gehen zugleich in den fortlaufenden Brief an ihre Schwester Lisa ein und werden dort mit der bisherigen Lebensgeschichte Noras verknüpft und vertiefen so von Abschnitt zu Abschnitt die innere Aussöhnung mit der Schwester, die überaus wichtig dafür zu sein scheint, dass Nora in Frieden ihren Weg zu Ende gehen kann.

Im letzten Teil des Buchs kommt es zur überraschenden Begegnung Noras mit einem Sohn Lisas, von dessen Existenz sie bis dahin gar nichts gewusst hatte, ein Sohn Lisas mit dem Mann, mit dem auch Nora - ohne zu ahnen, dass er Lisas Partner war - eine Liebesbeziehung gehabt hatte. Der junge Mann, der zynisch und arrogant in seinem Lebensüberdruss zu ihr kam, da er ein Sterben zu beobachten interessant fand, wird für sie zur letzten Aufgabe, ihm etwas von der Liebe, die auch sein entleertes Leben erfüllen könnte, weiterzugeben. Noras Schwächezustände, die zunehmen – mit großer Einfühlung erzählt – lehren sie, selbst Liebe und Hilfe anzunehmen und letztlich, das Schwerste für sie, sich selbst anzunehmen.

Die schmerzlich-abschiedliche, zugleich gelassene und oft auch heitere Stimmung im Kreis der „Sterbefamilie“ Noras gipfelt in deren Entschluss, ihren Sarg, den sie ihr „Boot“ nennt, ins Zimmer stellen zu lassen, wo er, von allen Freundinnen und Freunden, zu denen zuletzt auch Lisas Sohn gehört, bunt und symbolträchtig bemalen zu lassen, und um, mit dem „Boot“ als Mitte, ein Abschiedsfest und -Ritual mit allen zusammen zu feiern. Es ist ein Bild, das man nicht vergisst, wie Sterben sein kann, so anders als üblich, erfüllt und gelöst, mitgetragen vom Freundeskreis.

Was dieses klar komponierte und packend geschriebene Buch auszeichnet und es aus anderen zum Thema heraushebt, ist der tiefe Ernst, von spürbarer Lebenserfahrung gedeckt, und dazu eine gelassene Heiterkeit, mit der es eine neue Vorstellung vom Sterben vermittelt, einen Umgang mit dem Sterben, der befreit.

Dass buddhistische Tradition dahinter steht, von Ulli Olvedi als authentischer Kenntnis und Erfahrung eingebracht, macht nur deutlich, dass diese Tradition ein Menschenwissen enthält, das auch für solche, die nicht in dieser Tradition zuhause sind, von hohem Erfahrungswert ist und kostbar für unser aller Umgang mit Sterbenden und Tod. Diese Erfahrungsgeschichte zu einem Roman gestaltet zu haben und damit zu einem inneren Erlebnis für den Leser, macht den Wert dieses Romans aus.

 

Prof. Dr. Dr. Ingrid Riedel ist Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin, Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut in Zürich und Honorarprofessorin für Religionspsychologie an der Universität Frankfurt am Main. Autorin zahlreicher Bücher.