Besprechung zum Buch von
Prof. Dr. Ingrid Riedel
Ein Buch zu finden, das
einem wirklich beisteht und weiterhilft, wenn man selbst eine nahe
Freundin, einen Freund bei einem unheilbaren Krankheitsprozess, ja beim
Sterben begleitet, ist etwas Seltenes. Solch ein Buch jedoch ist Ulli
Olvedi, der bekannten Autorin und Expertin des tibetischen Buddhismus,
gelungen – in ihrem Roman „Über den Rand der Welt“. Es ist kein
Sachbuch der Lebenshilfe, es ist ein Roman, nach allen Regeln der Kunst
mit bewegender Story und klugem Plot geschrieben. Die Hauptfigur Nora
ist die von einem Krebsleiden Betroffene: „Aus. Ende. Das Todesurteil.
Die Bäume taumeln vorbei. Rasen, rasen an den Rand der Welt. Dann
hinunterstürzen – wohin? Aus dem Außen ins Innen, dort geht es weiter.
Keine Lösung!“, so die ersten Sätze des Buches, die einen sofort in das
Miterleben hineinziehen. Nora widerspricht dem Suizidimpuls. Sie ist
verstört, so wie es jede der von solcher Diagnose Betroffenen zu Anfang
sein wird, verstört über die nun nur noch begrenzte Lebenserwartung.
Verstört aber auch bei dem nun einsetzenden Rückblick auf das Leben, bei
dem, auf den ersten Blick, so manches nicht aufging. Nora ist zudem als
Mensch geschildert, der sich alle Versäumnisse anlastet, der – wie viele
– sein Leben vor allem von daher, was sie anderen schuldig geblieben
ist, beurteilt: Ein Erbe auch eines einseitig verstandenen Christentums
und einer davon bestimmten Erziehung. Ulli Olvedi versteht auch die
psychologischen Zusammenhänge ins Spiel zu bringen. Hinter Noras
Problematik sieht sie eine belastende Geschwisterkonstellation: Von
Kindheit an hatte Nora hinter der glücklicher veranlagten und in der
Familie geliebteren jüngeren Schwester zurückzustehen. Die Beziehung
Noras zu ihrer Schwester ist seit langem abgebrochen.
So beginnt denn auch ihre
Aufarbeitung des Ungelösten in ihrem Leben damit, dass sie ihrer
Schwester Lisa zu schreiben beginnt und im Rückblick ihrer beider
Geschick von Kindheit an aufrollt, um schließlich auch die gegenwärtigen
Geschehnisse und die Phasen ihrer Annäherung an den Tod zu schildern und
vor ihrer Schwester zu reflektieren: „Lisa, wenn Du diesen Brief
bekommst, lebe ich nicht mehr.“
Dieser Teil des Buches,
der lange Brief der todkranken Nora an ihre Schwester Lisa, der
abschnittweise das ganze Buch durchzieht, eine Ich-Erzählung für sich
innerhalb der Komposition des Buches, gibt dem Dargestellten eine
besondere Authentizität, die den Leser zum Mitschwingen einlädt.
Nora, die allein lebt,
nach Scheidung und Tod eines neuen Partners, ist in der Handlung des
Buchs wachsend umgeben von einem Kreis recht unterschiedlicher Menschen,
die sich immer mehr zu ihrer „Sterbefamilie“, wie sie selbst sie nennt,
formen: Da ist Marie, die zuverlässige, warmherzige Nachbarin, eine
Lebenspraktische, mütterliche Frau mit ihren beiden Töchtern, die,
zusammen mit dem kleinen Kind, das einer der beiden gehört, immer
zutraulicher zu „Tante Nora“ werden. Im Zentrum jedoch steht die
gelungenste Gestalt des Buches, Wangmo, eine Frau mit
tibetisch-buddhistischem Hintergrund, Noras engste Freundin. Wangmo ist
es, die durch ihre gelebte Freundschaft zu Nora in dieser Grenzsituation
die Handlung zu dem macht, was sie ist: die Geschichte davon, wie man
einen todkranken Menschen begleiten kann, in einem neuen Umgang mit dem
Sterben, einer Befreiung von der Befangenheit angesichts des Todes. Das
Buch vermittelt hier eine berührende Erfahrung, wie es Wangmo gelingt,
mit ihrer unaufdringlichen Zuverlässigkeit, mit ihrem liebevollen Humor
der Freundin eine neue Lebendigkeit zu vermitteln, zu der sie sich
wachsend von ihrer Ich-Zentriertheit lösen und dafür die Weite
spiritueller Klarheit gewinnen kann. Durch eine Reise nach Kathmandu,
dem Zentrum des tibetisch geprägten Buddhismus in Nepal, die Wangmo
anregt und begleitet, lernt Nora den „Rinpoche“, der ihr Lehrer wird,
kennen, und mit ihm Tara, eine imaginative Verkörperung des unendlichen
Mitgefühls, das sie gibt und weitergegeben haben will. Durch
Imagination und Meditation der Tara gewinnt Nora Schutz und innere
Begleitung durch die schwersten Phasen ihrer Krankheit.
Ulli Olvedi vermag durch
die unaufdringliche Schilderung dieser inneren Erfahrung, in die auch
die kritischen Rückfragen des westlichen Menschen Nora einbezogen sind,
dem Leser eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche spirituelle Kraft
und Geborgenheit aus der buddhistischen Tradition angesichts von Sterben
und Tod gewonnen werden kann.
Wie schon in ihren
früheren Romanen gelingt es Ulli Olvedi auch angesichts dieser Themen,
den Lesern einen „Geschmack“ von solchen existenziellen Erfahrungen zu
geben, indem sie diese – ohne zu belehren – erzählerisch und
gestalterisch mitteilt. Wunderbar z.B. die Szene, in der Nora in ihrer
Todesangst vor den Rinpoche tritt: „Rinpoche, ich werde sterben“, sagt
Nora. „Ich auch“, erwidert der alte Tibeter freundlich und
selbstverständlich, obgleich er keinerlei Anzeichen nahen Sterbens an
sich trägt, ehe er, zugewandt, weiterfragt: „Krebs?“. Nora kommt nach
der Erfahrung mit dem Rinpoche wie erneuert und innerlich belebt nach
Europa zurück. Ihr Sterbeweg geht dennoch weiter.
Immer schützender
schließt sich ihre „Sterbefamilie“, allen voran Marie, die Nachbarin,
und Wangmo, um sie zusammen.
All diese Ereignisse
gehen zugleich in den fortlaufenden Brief an ihre Schwester Lisa ein und
werden dort mit der bisherigen Lebensgeschichte Noras verknüpft und
vertiefen so von Abschnitt zu Abschnitt die innere Aussöhnung mit der
Schwester, die überaus wichtig dafür zu sein scheint, dass Nora in
Frieden ihren Weg zu Ende gehen kann.
Im letzten Teil des Buchs
kommt es zur überraschenden Begegnung Noras mit einem Sohn Lisas, von
dessen Existenz sie bis dahin gar nichts gewusst hatte, ein Sohn Lisas
mit dem Mann, mit dem auch Nora - ohne zu ahnen, dass er Lisas Partner
war - eine Liebesbeziehung gehabt hatte. Der junge Mann, der zynisch und
arrogant in seinem Lebensüberdruss zu ihr kam, da er ein Sterben zu
beobachten interessant fand, wird für sie zur letzten Aufgabe, ihm etwas
von der Liebe, die auch sein entleertes Leben erfüllen könnte,
weiterzugeben. Noras Schwächezustände, die zunehmen – mit großer
Einfühlung erzählt – lehren sie, selbst Liebe und Hilfe anzunehmen und
letztlich, das Schwerste für sie, sich selbst anzunehmen.
Die
schmerzlich-abschiedliche, zugleich gelassene und oft auch heitere
Stimmung im Kreis der „Sterbefamilie“ Noras gipfelt in deren Entschluss,
ihren Sarg, den sie ihr „Boot“ nennt, ins Zimmer stellen zu lassen, wo
er, von allen Freundinnen und Freunden, zu denen zuletzt auch Lisas Sohn
gehört, bunt und symbolträchtig bemalen zu lassen, und um, mit dem
„Boot“ als Mitte, ein Abschiedsfest und -Ritual mit allen zusammen zu
feiern. Es ist ein Bild, das man nicht vergisst, wie Sterben sein kann,
so anders als üblich, erfüllt und gelöst, mitgetragen vom Freundeskreis.
Was dieses klar
komponierte und packend geschriebene Buch auszeichnet und es aus anderen
zum Thema heraushebt, ist der tiefe Ernst, von spürbarer Lebenserfahrung
gedeckt, und dazu eine gelassene Heiterkeit, mit der es eine neue
Vorstellung vom Sterben vermittelt, einen Umgang mit dem Sterben, der
befreit.
Dass buddhistische
Tradition dahinter steht, von Ulli Olvedi als authentischer Kenntnis und
Erfahrung eingebracht, macht nur deutlich, dass diese Tradition ein
Menschenwissen enthält, das auch für solche, die nicht in dieser
Tradition zuhause sind, von hohem Erfahrungswert ist und kostbar für
unser aller Umgang mit Sterbenden und Tod. Diese Erfahrungsgeschichte zu
einem Roman gestaltet zu haben und damit zu einem inneren Erlebnis für
den Leser, macht den Wert dieses Romans aus.
Prof. Dr. Dr. Ingrid Riedel ist Diplom-Psychologin,
Psychotherapeutin, Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut
in Zürich und Honorarprofessorin für Religionspsychologie an der
Universität Frankfurt am Main. Autorin zahlreicher Bücher.
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